Geschichte und Gene

(Familien-) Geschichte und Genforschung: gibt es da Gemeinsamkeiten und Berührungspunkte?

Dieser Text entspricht im Wesentlichen einem Artikel in der KSSG Huusziitig 2000.3 mit dem Schwerpunktthema Geschichte. Hier ist der Text mit Links zu anderen Internet-Informationen ergänzt.


Einführung
Zahlenspiele
Familienforschung heute
Verbindung zur Medizin: Das Island-Projekt
Was ist noch möglich ?
Ist Familienforschung ein Geschäft ?
Wie fange ich an ?
Links

Einführung

Bei der Genealogie, der Erforschung der Familiengeschichte, tragen die Gene nicht nur zur Namengebung bei: der Zusammenhang zwischen Familienforschung und Genetik ist klar. Aber gibt es auch eine Verbindung zwischen Familienforschung und modernen Methoden der Genforschung?

Oft stellt man einen Familienforscher als einen verbissenen Sammler von Daten seiner Vorfahren dar, der der namentragenden Linie nachgeht - immer auf der Suche nach vornehmen oder berühmten Personen für den eigenen Stammbaum (einem Wort, das häufig falsch verwendet wird). Diesem Bild liegt immer noch die Vorstellung zugrunde, Familienforschung sei nur etwas für adelige Geschlechter - und wenn man als Nichtadeliger trotzdem Familienforschung betreibt, müsse das erste Ziel sein, irgendwo auf adelige Vorfahren zu stossen. Der Traum jedes Familienforschers wäre demnach, seine Abstammung z.B. von Karl dem Grossen nachzuweisen. Daraus leiten sich zwei Fragestellungen ab: Wie wahrscheinlich ist eine Abstammung von Karl dem Grossen - und wichtiger - entspricht dieses Bild vom Familienforscher noch den heutigen Gegebenheiten?

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Zahlenspiele

Jeder von uns hat 2 Eltern, 4 Grosseltern, 8 Urgrosseltern usw. In der 10. Generation sind es rein rechnerisch 210 Personen, also ungefähr 1000 Vorfahren. Wenn man für eine Generation rund 30 Jahre ansetzt, wäre das vor 300 Jahren gewesen, so um 1700. Gehen wir weitere 10 Generationen zurück (also so um 1400), sind wir bei 1000x1000 = 1 Million Personen; folglich um 1100 bei 1 Milliarde und um 800 (der Zeit Karls des Grossen) bei einer Billion - einem Vielfachen der damaligen Weltbevölkerung. Mit dieser einfachen Rechnung kann also etwas nicht stimmen! Der Grund heisst «Ahnenschwund»: wenn entfernte Verwandte heiraten, bedeutet das, dass einige Generationen zurück ein Ehepaar doppelt in der Ahnentafel vorkommt. Je früher das passiert, desto stärker wirkt sich der Ahnenschwund aus, da er sich analog der Zahl der Vorfahren bei jeder Generation verdoppelt - ja, mindestens verdoppelt, denn durch weitere Querverbindungen kommt es zu zusätzlichem Ahnenschwund. Dennoch wird geschätzt, dass etwa die Hälfte aller heute lebenden Mitteleuropäer von Karl dem Grossen abstammt. Ob sich diese Abstammung aber genau nachvollziehen lässt, ist eine andere Frage: Nur beim Hochadel sind in der Regel Quellen aus dem Mittelalter noch erhalten, die einen Nachweis ermöglichen könnten. Doch übertragen wir diese Überlegung auf heute weniger bekannte Zeitgenossen Karls. Viele von ihnen würden in der Ahnentafel heute lebender Mitteleuropäer auftauchen. In anderen Worten: Wir Alle sind viel enger miteinander verwandt, als man gemeinhin glaubt. Sollte das nicht ein Grund sein, die heute diskutierten Probleme von Globalisierung und Vernetzung evtl. unter einem anderen Blickwinkel zu betrachten? Was ist der Grund dafür, dass uns in der Zwischenzeit eingetretene, unterschiedliche Entwicklungen wichtiger erscheinen als der gemeinsame Ursprung?

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Familienforschung heute

Doch zurück zur Familienforschung. Was bedeutet sie uns heute? Da ist einmal die Erforschung der eigenen Familie, die den persönlichen Bezug zur Geschichte, insbesondere der Sozialgeschichte, eines Ausschnitts aus Zeit und Raum, herstellt. Familienforschung sollte nicht aufhören, wenn man Geburts-, Heirats- und Todesdatum eines Vorfahren gefunden hat. Vielmehr fängt sie dann eigentlich erst an: wie haben unsere Vorfahren gelebt? Warum haben sie bestimmte Entscheidungen gefällt (im Extremfall z.B. den Entscheid, auszuwandern) bzw. welche Entscheidungen wurden ihnen aufgezwungen? Oft wird man darauf stossen, dass ein bestimmtes Handwerk über Generationen hinweg in der Familie ausgeübt wurde. Wäre das nicht ein guter Grund, sich mit der geschichtlichen Entwicklung dieses Handwerks zu befassen? Was bedeutet es für einen heute lebenden Arzt, einen «Chirurgus» unter seinen Vorfahren zu finden? Auf jeden Fall einen Anstieg im Sozialprestige, denn in den Eidbüchern der Stadt St.Gallen aus dem 17. Jahrhundert werden Ärzte oft mit Gauklern, Zirkusvolk, Handwerksgesellen, Marktschreiern und ähnlichen Vaganten in einen Topf geworfen.

Wenn man sich erst einmal mit solch allgemeinen Gegebenheiten befasst, ist der Schritt nicht mehr weit zur sozialgeschichtlichen Familienforschung, in der nicht mehr die persönliche Vorfahrentafel im Vordergrund steht, sondern historisch-demographische Auswertungen der Quellen z.B. nach Heiratsalter, Kinderzahl pro Ehe, Sterbealter verheirateter Frauen bzw. deren Änderung im Lauf der Jahrhunderte. Die moderne Geschichtswissenschaft weist diesen Methoden der Erforschung der Geschichte der «kleinen Leute» zunehmende Bedeutung zu.

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Verbindung zur Medizin: Das Island-Projekt

In der Medizin liegt der Zusammenhang zwischen Familienforschung und Genetik insbesondere bei der Erforschung seltener Erbkrankheiten auf der Hand. Besonders gut geht das bei «geschlossenen Populationen», also Bevölkerungsgruppen, wo es relativ selten zu Verbindungen mit Aussenstehenden kam. Der Grund dafür kann in der Stellung (z.B. Hochadel), aber auch in religiöser oder regionaler Abkapselung liegen (so war z.B. Tarasp seit den Bündnerwirren Mitte des 17. Jahrhunderts als nach wie vor katholisch und Österreich zugewandt weitgehend vom umliegenden Unterengadin sozial abgeschnitten). Offensichtliche geographische Gründe haben dazu geführt, dass die isländische Bevölkerung eine solche geschlossene Population darstellt. Die heute lebenden 270'000 Isländerinnen und Isländer sollen so gut wie alle von einer Gruppe norwegischer Wikinger abstammen, die die Insel im 9. Jahrhundert besiedelt und dabei vermutlich noch ein paar irische Sklaven mitgebracht hatten. So ist nicht verwunderlich, dass Familienforschung in Island hoch im Kurs steht. Die Möglichkeiten der wissenschaftlichen Forschung hat Kári Stefansson (Bericht im St.Galler Tagblatt) erkannt, der 1996 die Firma DeCode gründete, die heute etwa 250 Mitarbeiter beschäftigt, darunter 15 professionelle Familienforscher.

Das isländische Erfolgsbeispiel für das Zusammenspiel von Familienforschung und Genetik ist das unter dem Kürzel BRCA2 bekannte Gen, welches eine entscheidende Rolle beim Brustkrebs spielt. Weltweit gibt es zahlreiche Mutationen dieses Gens. Bei 575 untersuchten Isländerinnen und Isländern, die seit dem 2. Weltkrieg an Brustkrebs erkrankt waren, war es dagegen immer dieselbe Mutation mit 5 fehlenden Basenpaaren: eine Mutation, die auch schon bei Einar nachgewiesen wurde, einem Kleriker, der im 16. Jahrhundert auf Island gelebt hat.

Es wird geschätzt, dass seit der Besiedelung etwa 2 Millionen Menschen auf Island gelebt haben, von denen nur gerade 1.2 bis 1.5 Millionen wegen der früher hohen Kindersterblichkeit das Erwachsenenalter erreicht haben. Von etwa 800'000 dieser Isländer sollen in irgendwelcher Form noch Informationen vorhanden sein. Informationen von 600'000 Isländern hat DeCode im Firmencomputer; bei manchen nur genealogische Angaben, seit 1930 auch Gewebeproben aller Obduktionen sowie viele Blutproben. Dies ist eine Fundgrube für den medizinischen Forscher wie auch für den Familienforscher. So lässt sich z.B. ermitteln, dass alle Isländer im Durchschnitt seit etwa 8 Generationen, also rund 250 Jahre zurück, miteinander verwandt sind. Ähnlich dürfte es sich auch im alten St.Gallen verhalten: zwar war die reformierte Stadtrepublik durch die umliegenden äbtischen Lande nicht so effektiv isoliert wie Island durch das Meer, aber dafür war die Bevölkerungszahl geringer. Die genealogischen Daten wären in Form der «Stemmatologia Sangallensis» im Stadtarchiv vorhanden. Dort sind auch frühere Quellen berücksichtigt. Aber seit 1527 konnte sich Johann Jakob Scherrer in seinem 1732 begonnenen Werk auf Kirchenbücher stützen. Die Stemmatologia wurde nach seinem Tode bis 1876 (Einführung des modernen Zivilstandswesens in der Schweiz) weitergeführt und stellt die Grundlage der bis 1990 regelmässig erschienenen «Bürgerbücher der Ortsbürgergemeinde St.Gallen» dar, deren Zukunft angesichts heutiger Datenschutzgepflogenheiten leider nicht mehr gesichert ist. Die Daten für eine solche Untersuchung ständen also seit mindestens 1527 über einen Zeitraum von etwa 250 Jahren bis zum Ende der Stadtrepublik zur Verfügung. Es müsste sich nur jemand die Mühe nehmen, diese Daten in eine Datenbank einzugeben, um sie für Untersuchungen wie in Island zugänglich machen zu können.

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Was ist noch möglich ?

Ein anderes Projekt wird von Brian Sykes und Catherine Irven am Institute for Molecular Medicine der Universität Oxford geleitet. Der Name Sykes kann zur Zeit der Entstehung des Familiennamen im 13/14. Jahrhundert auf eine kleine Region eingegrenzt werden. Während bisher angenommen wurde, dass der Name in dieser Zeit von mehreren Individuen angenommen wurde, hat nun die Untersuchung der y-Chromosomen von 61 Namensträgern Sykes ergeben, dass in fast der Hälfte der Fälle die Chromosomen identisch oder zumindest so ähnlich waren, dass von einem gemeinsamen «Stammvater» ausgegangen werden kann. Bei der anderen Hälfte der Untersuchten konnten keine Ähnlichkeiten festgestellt werden. Es kann also davon ausgegangen werden, dass es keinen zweiten Stammvater (mit heute lebenden Nachkommen) gab, sondern dass bei diesen Personen im Lauf der letzten 700 Jahre einmal ein Unterbruch der väterlichen Linie stattgefunden hat, sei es durch einen unehelichen Sohn oder eine Adoption. Bei den über 20 Generationen in 700 Jahren reicht solch ein Ereignis bei 1.3% der Söhne einer Generation aus, um einen Unterbruch in 50% der heute Lebenden Namensträger zu erhalten.

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Ist Familienforschung ein Geschäft ?

Untersuchungen wie diese führen zwangsläufig dazu, dass jemand versucht, daraus Geld zu machen - insbesondere in den USA, wo die Familienforschung für wesentlich breitere Kreise der Bevölkerung das Hobby Nr. 1 ist. So will beispielsweise das Biotech-Unternehmen Sorenson BioScience Inc. in Salt Lake City (das auch am sehr ernst zu nehmenden Human Genom Project beteiligt ist) «die Genealogie auf den Kopf stellen» durch Genanalysen von weltweit 100'000 Personen. Anhand dieser Datenbank soll zahlungskräftigen Interessenten dann gesagt werden können, woher ihre Vorfahren stammen; Ein Anliegen für viele Amerikaner, die ihre europäischen oder afrikanischen Vorfahren suchen. Als «Beweis» dafür, dass es funktionieren sollte, werden das Findelkind Kaspar Hauser (bei dem eine Abstammung aus dem Hause Baden gemutmasst wurde) sowie die angebliche Zarentochter Anastasia zitiert. In beiden Fällen konnte durch Genanalysen nachgewiesen werden, dass die vermutete bzw. angebliche Abstammung nicht stimmen kann. Leider sind diese Beispiele im hier beschriebenen Zusammenhang aus mehreren Gründen völlig irrelevant! Zum einen waren hier sowohl DNA-Proben der Probanden wie der angenommenen Vorfahren bekannt. Wenn ein Amerikaner seine unbekannten Schweizer Vorfahren sucht, ist ja nicht einmal der Vorfahr bekannt, geschweige denn eine DNA-Analyse möglich. Zum anderen reicht es für einen Ausschluss der Verwandtschaft aus, aufgrund von DNA-Vergleichen des Probanden mit der Familie des Vorfahren Aussagen zu machen. Für die Erstellung eines auch nur «fragmentarischen Stammbaums» müsste dagegen die Abstammung von einer Einzelperson nachgewiesen werden.

Da die DNA-Proben der gesuchten Vorfahren nicht vorliegen, sollen diese Vorfahren nun eben durch Vergleich mit DNA-Proben heute lebender 100'000 Freiwilliger lokalisiert werden. Auf den ersten Blick ist dies eine grosse Zahl (und sicher ein enormer Aufwand). Doch schauen wir uns das genauer an. Wenn damit weltweit nach unbekannten Vorfahren gesucht werden soll, kann in erster Näherung davon ausgegangen werden, dass diese Freiwilligen weltweit auch annähernd gleichmässig verteilt sind. Etwa 0.002% der derzeitigen Weltbevölkerung und damit umgerechnet gut 100 Freiwillige für die Schweiz, also je ein Freiwilliger nur für einen Bruchteil der Schweizer Bürgerorte - und dabei wären sicher viele Genanalysen «alteingesessener» Familien in jedem Bürgerort nötig, um einigermassen sinnvolle Aussagen über den jeweiligen «Pool» an genetischer Information machen zu können. Auf gut deutsch, dieses Projekt (wie auf dem Internet beschrieben) ist, gelinde gesagt, abenteuerlich.

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Wie fange ich an ?

Wer in der Schweiz Familienforschung betreiben will, ist deswegen gut beraten, sich der «traditionellen» Methoden der Genealogie zu bedienen. Wie geht das? Eine Einführung finden Sie bei der «Schweizer Familienforschung auf dem Internet» - oder Sie besuchen einmal die «Vereinigung für Familienkunde Sankt Gallen und Appenzell», deren Veranstaltungs-Programm Sie ebenfalls auf dem Internet finden.


Links (diese Rubrik war in der Huusziitig nicht enthalten)

Die "Schweizer Familienforschung auf dem Internet" ist die umfangreichste Internet-Sammlung von Informationen zur Familienforschung in der Schweiz und repräsentiert die Schweiz bei den "German Genealogy Pages" (wobei hier "German" als "deutschsprachig" zu übersetzen ist). Dort finden sich zahlreiche, insbesondere für den Einsteiger nützliche, Informationen zur Familienforschung im deutschsprachigen Raum, die auch für die Forschung in der Schweiz gültig sind.

Wer sich mit einer schriftlichen Anleitung zur Familienforschung im Internet vor den Computer setzen möchte, findet mit "Ahnenforschung online für Dummies" genau das Richtige (trotz des etwas absonderlichen Titels).

Weitere deutschsprachige Übersichtsseiten sind:

Haben Sie jetzt Spass an der Familienforschung gefunden und wollen selbst anfangen ? Dann ist nur zu empfehlen, von Beginn an systematisch zu arbeiten (keine losen Zettel - von denen man später nicht mehr weiss, wann man diese Angaben wo abgeschrieben hat !). Computerprogramme können Sie dabei unterstützen: Ahnenforscher (von Remo Schlauri, Zuzwil) gibt es als Demoversion zum kostenlosen Download.

Wichtige englischsprachige Übersichtsseiten sind:

Zusammenhänge zwischen Genetik und Genealogie werden beschrieben bzw. kommerziell angeboten auf:

Leider sind viele dieser Informationen nur auf Englisch zu finden - deswegen hier zum Abschluss noch ein paar deutschsprachige Links in diesem Zusammenhang:

Haben Sie eine in diesem Zusammenhang interessante Webseite gefunden, die hier fehlt?
Dann schicken Sie mir bitte die Webadresse an wolf.seelentag@kssg.ch.

Zurück zum Inhaltsverzeichnis


Diese Seite wird von Wolf Seelentag betreut; der Text wurde in Zusammenarbeit mit Esther Graf erstellt; für Hinweise auf Webseiten mit Verbindung zur Anthropologie bedanken wir uns bei Holger Zierdt (Göttingen). Kommentare zum Text sind von den Autoren ausdrücklich erwünscht.
Letzte Bearbeitung: 01 Juni 2003